Die EU hat große Probleme, aber noch immer enormes Potenzial. Gebraucht werden jetzt mutige, tatkräftige Politiker, die über die Grenzen hinweg an einem Strang ziehen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ein gutes Gefühl für Inszenierungen. Die Ankündigung von sofortigen Parlamentswahlen in Frankreich, noch bevor das Ergebnis der EU-Wahl feststand, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes war die Rede an der Universität Sorbonne, die er wenige Wochen vor der Wahl zum Europäischen Parlament vor Studierenden hielt. Seine Partei lag in den Umfragen deutlich hinter jener von Marine Le Pen. Es wäre einfach gewesen, ein paar Zugeständnisse in ihre Richtung zu machen. Machte er aber nicht. Macron sagte, Europa müsse unabhängiger werden und stärker. Sollte das nicht gelingen, war seine Prognose düster: „Europa kann sterben!“ Die Wahl ist vorbei, das Ergebnis ist bekannt. Weil die EU funktioniert, wie sie funktioniert, bleiben die Menschen an den mächtigsten Positionen in Europa aber annähernd die gleichen. Also weiter so wie bisher? Das wäre keine gute Idee. Im schlechtesten Fall fällt Europa wirtschaftlich noch weiter hinter die USA und China zurück, wird geopolitisch zwischen diesen beiden Akteuren zerrieben und legt seine Sicherheit weiterhin in die Hände des amerikanischen Präsidenten – auch wenn dieser ab Jänner 2025 wieder Donald Trump heißen sollte. Was Europa bräuchte, um es wieder zu alter Stärke zu führen, ist klar. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta etwa hat auf147 Seiten lauter vernünftige Vorschläge gemacht, wie ein tatsächlich integrierter Binnenmarkt das Potenzial der europäischen Wirtschaft heben könnte. Doch die Gefahr ist groß, dass all die Reformpläne einmal mehr in den Schubladen der Bürokraten verstauben werden.
Die Aufgaben sind groß
Wenn die Aufgaben so groß sind, dass man daran fast nur scheitern kann, ist die Verlockung da, es gar nicht zu versuchen. Und die Aufgaben sind groß: Wer kann 27 Staaten dazu bringen, ein gemeinsames Schienennetz und einheitliche Vorgaben zu schaffen, um Menschen und Güter unkompliziert mit dem Zug von Tallinn bis nach Lissabon zu transportieren? Auch der gemeinsame Telekommunikationsmarkt, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Vollendung der Bankenunion oder das Schaffen eines gemeinsamen europäischen Kapitalmarkts wären immens wichtig, ließen sich auf der politischen Ebene aber bisher nicht durchsetzen –obwohl mittelfristig alle davon profitieren würden. Wie stark die transformative Kraft der EU ist, hat das Jubiläum der Osterweiterung in Erinnerung gerufen. Jene zehn Staaten, die 2004 der EU beitraten, stehen heute alle erheblich besser da als vorher. In manchen Ländern gibt es zwar autoritäre Tendenzen, manche haben Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit, aber insgesamt ist das Bild eindeutig: Die Erweiterung hat die beigetretenen Staaten gestärkt, aber eben auch Europa insgesamt.
Neue Mitgliedstaaten preschen vor
Der tschechische Präsident Petr Pavel hat mit seiner Initiative, Munition für die Ukraine aufzustellen, vorgezeigt, was möglich ist, selbst wenn nicht alle EU-Staaten mitziehen. Die Zusammenarbeit der Armeen in den baltischen und skandinavischen Staaten wird noch einfacher, weil Schweden ebenfalls Mitglied der NATO wurde und unter den gleichen Vorgaben agiert. Auch hier lebt eine Region vor, was gemeinsam zu schaffen ist. Warum sollte es Österreich und seinen östlichen und südlichen Nachbarländern nicht gelingen, ein regionaleinheitliches Schienennetz zu schaffen, noch bevor die große europäische Entscheidung dazu getroffen wurde? Durch die alten Trassen, die noch auf die österreichisch ungarische Monarchie zurückgehen, ist eine wichtige Grundlage dafür gelegt. Natürlich wäre es besser, wenn die Regeln und Vorgaben gleich für alle EU-Staatenvereinheitlicht würden. Aber ein regionales Vorbild könnte viel bewirken: Wenn es erst einmal möglich ist, binnen kürzester Zeit mit der Bahn von Prag nach Mailand und von Belgrad nach Wien zu reisen, wird der Rest der EU nicht untätig zusehen wollen. Mittel- und Osteuropa würde auch besonders von einer regionalen Kapitalmarktunion und einer gemeinsamen Börse profitieren. Gerade in diesem Raum fehlt es an Finanzierungen für Start-ups und Unternehmen, die sich national bereits etabliert haben, aber Kapital bräuchten, um international zu wachsen. Die vielen großartigen osteuropäischen IT-Fachkräfte sind in der ganzen Welt gefragt, können ihr Potenzial aber ausgerechnet dort oft nicht entfalten, wo sie ausgebildet wurden. Ein gemeinsamer Kapitalmarkt würde das erheblich einfacher machen, allen Widrigkeiten zum Trotz – zu denen sicher zählt, dass es in der Region verschiedene Währungen gibt.
Auch Europas Universitäten könnten viel besser werden, wenn sich jeder Staat darum bemühen würde, wenigstens eine Akademie in einem speziellen Forschungsbereich international an die Spitze zu bringen, statt überall nur Mittelmaß anzubieten. Junge Menschen würden von einer gemeinsamen Strategie profitieren.
Erfolg sollte Mut machen
Dass die EU größer wurde und hoffentlich noch weiterwachsen wird, macht ihre Vertiefung nicht einfacher. Umso wichtiger wäre es, dass EU-Staaten zumindest regional die nächsten Schritte setzen. Die Möglichkeiten, Europa wieder voranzubringen, sind so vielfältig, weil das Potenzial dieses Kontinents, seiner Unternehmen, Wissenschaftler und seiner gut ausgebildeten Jugend so groß ist. Es ist an der Zeit, diese enormen Ressourcen nicht länger mit nationalen Grenzen zu behindern. Was die EU braucht, sind Politiker, die bereit sind, über die Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Wenn sie das auch noch gut inszenieren, wird ihr Erfolg den anderen Mut machen, ihnen nachzueifern. Europa kann sterben, dieses Risiko besteht tatsächlich. Aber es gibt auch die Chance, neu durchzustarten. Damit wir in fünfzig Jahren noch ein Leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand genießen können.
Andreas Treichl war CEO der Erste Group, ist Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung und Präsident des Europäischen Forum Alpbach. Vom 17. Bis zum 30. August steht es heuer unter dem Motto „Moment of Truth“. Weitere Informationen finden Sie unter www.alpbach.org
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Zeitschrift „Der Pragmaticus“